Adler-Relief, 1969 (ÖR022)

Im Rahmen eines beschränkten Wettbewerbs des Finanzministeriums der Bundesrepublik Deutschland wurde der Entwurf von Hans Kindermann als Hoheitszeichen für den Sitzungssaal des Neubaus des Bundesverfassungsgerichts ausgewählt.
Er beschäftigte sich bei der Werkgenese – das beweisen Zeichnungen, Fotografien und Ausschnitte von gedruckten Darstellungen – zuallererst mit dem Naturstudium. Er fotografierte in einer zoologischen Anlage Raubvögel und studierte deren Flügelhaltung sowie deren Positionierung in Ruhestellung. Er fertigte erstmals in seinem grafischen Werk nachweisbar Tierzeichnungen an, oft flüchtige Skizzen, die die Kopf- und Schnabelform fokussierten.
Es existieren zwei Gipsentwürfe des „Adlers“. Der eine zeichnet sich durch gespannte Flügel aus, die einen runden Umriss zeigen. Die Figur des Vogels erhebt sich als Hochrelief aus einer Basis heraus, die an den unteren und oberen Flügelenden rechts und links durchbrochen ist. Angelegt ist in dem Entwurf bereits eine bewegte Gestaltung der Oberfläche, aus der sich der Körper des Vogels und die Schwingen herausbilden.
Die zweite Version des Entwurfs ist weit klarer ausgearbeitet und lässt eine quadratische Basis des Reliefs erkennen. Sie schafft den Untergrund, aus dem sich der Adler aufbaut. Die Flügel sind nur leicht geöffnet, keinesfalls ausgebreitet. Sie erzeugen einen deutlich sichtbaren Negativraum, der die Körperformen des Vogels umfängt. Die Flügelspitzen zeigen nicht nach oben, sondern nach unten. Nach vorne tritt das Äußere des Federkleids mit der Betonung der Vertikalen – gleich einem geschlossenen Flügelaltar. Der Kopf und die höchsten Punkte der Flügel, die Gelenkstellen, überragen die quadratische Basis, so dass das Werk an die formale Grenze des Reliefs hin zur Ganzfigur stößt.
Hans Kindermann entschied sich für die Fassung mit den nahezu geschlossenen Flügeln als Modell für den Kunstwettbewerb und distanzierte sich damit schon in der motivischen Anlage von der tradierten Darstellungsweise, etwa von Ludwig Gies (1887-1966) im Bonner Plenarsaal. Der „Adler“ schwebt nicht in einem unbestimmten Raum mit gespreizten Beinen, die das Schwanzgefieder sichtbar machen, sondern ruht in einer Art vorbereitenden oder abwartenden Haltung.
Zur Umsetzung wählte der Künstler Holz. Grundlage der Verwirklichung war ein Arbeitsmodell aus Gips, das der Hälfte der Originalgröße entsprach. Es ist nicht mehr erhalten. Danach bearbeitete der Künstler einen verleimten, nahezu quadratischen Holzblock aus rötlicher Oregon-Pinie, die auf das Interieur des holzverkleideten Sitzungssaales abgestimmt war.
Deutlich nach rechts versetzt, an der Stirnwand hinter dem Podium der Richter ange- bracht, ist das Werk Kindermanns – neben der Bundesfahne – der einzige Schmuck des Raums, so dass es eine dominierende Position einnimmt. Der Eindruck der Massigkeit des „Adler“-Hochreliefs entsteht maßgeblich durch die Bearbeitung des Reliefs in die Tiefe. In der Vorderansicht bildet das Innere der Flügel einen dunklen Hohlraum und den Anschein einer vollplastischen Gestaltung. Die im Ansatz naturalistische Darstellungsweise des Vogelkörpers wird durch die grob behauene Struktur der Oberfläche gebrochen. Das Hauptmerkmal des „Adlers“ von Kindermann ist nicht seine Weite, sondern seine Tiefe, die ein grundlegendes bildhauerisches Kernanliegen berührt, aber auch inhaltliche Bezüge herstellt. Der „Adler“ Kindermanns breitet die Schwingen aus wie die „Schutzmantelmadonna“ ihr Gewand.
Der Bildhauer brach mit der geläufigen ausgebreiteten Flügelhaltung, die auch das Machtsystem in der Nazi-Zeit benutzt hatte. Die bildhauerische Negativform evoziert das Ausdrucksmoment der Schutzgeste, die im Kontext des Bundeswefassunggerichts der Jurisdiktion auferlegt wird.