Einführung

Bundesarchiv, B 145 Bild-F083310-0005 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0

Ein Hauptwerk des Bildhauers Hans Kindermann (1911-1997) gehört zu den meistbeachteten Kunstwerken in Deutschland. Wann immer die Richter des Bundesverfassungsgerichts (BVG) in Karlsruhe eine wichtige Entscheidung verkünden, sind die Blicke im großen Sitzungssaal des höchsten Gerichts auch auf das Staatssymbol der Bundesrepublik Deutschland an der Wand hinter dem Verhandlungstisch gerichtet. Das knapp zwei Meter hohe Holzrelief mit dem Wappentier ist durch Fernseh- und Pressebilder geradezu populär. Hans Kindermann ist der Schöpfer des „Adlers“, 1969. Der Künstler jedoch ist weit weniger bekannt als das von ihm geschaffene Werk.

„Werk im Schatten des Adlers“ betitelte Michael Hübl seinen Bericht über eine Ausstellung mit späten Arbeiten Hans Kindermanns anlässlich dessen 85. Geburtstags in der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, wo dieser von 1957 bis 1977 als Professor für Bildhauerei und von 1963 bis 1971 zusätzlich als Rektor wirkte. Dies klingt wie das Resümee eines Œuvres, das größtenteils abseits des öffentlichen Interesses stand. Tatsächlich konnte der Bildhauer – abgesehen von jener Werkschau in der Akademie – zeitlebens auf keine Einzelausstellung verweisen. Es lag kein monografischer Band vor und in den Überblickswerken zur Plastik des 20. Jahrhunderts fehlte sein Name.

Dennoch befand sich Kindermann im Einflussbereich namhafter Künstler und erfuhr öffentliche Wertschätzung. Er gehörte als einziger Bildhauer zu den Repräsentanten der Höri-Künstler während und nach dem Zweiten Weltkrieg und zählte damit zu den Weggefährten etwa von Erich Heckel (1883-1970) und Otto Dix (1891-1969). Er repräsentierte 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel mit seiner Brunnengestaltung für den Deutschen Pavillon die moderne Plastik in der Bundesrepublik Deutschland und positionierte sich damit neben zwei der bekanntesten Bildhauer der Zeit, Bernhard Heiliger (1915-1995) und Fritz Koenig (1924-2017). 1968 erhielt er schließlich den Auftrag, das erwähnte Wappentier der Bundesrepublik für den Neubau des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu gestalten. Der „Adler“, das figürliche Motiv, bestätigte – trotz abstrahierender Gestaltungselemente – einmal mehr die Wahrnehmung Hans Kindermanns als figürlich arbeitenden Bildhauer, eine Kategorisierung, gegen die sich der Künstler selbst nicht wandte und die er mit seinem Spätwerk bestätigte. Die Figuration manifestierte sich in der Kunst des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zum abstrahierenden, nicht abbildenden künstlerischen Verfahren. Die Kategorisierungen als Ausdruck für ein „Kunstwollen“ gehen auf Wilhelm Worringers Übertragung des der Philosophie entstammenden Terminus auf die Kunst („Abstraktion und Einfühlung“, 1908) zurück. Worringer definierte, „Abstraktion“ sei der „Übergang von der sinnlichen zur begrifflich theoretischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und zugleich das Resultat dieses Prozesses“. Die Popularisierung des Abstraktions- Begriffs führte zur Deutung, Abstraktion stehe in Korrelation zur komplexen moder- nen Welt, die sich der Sichtbarkeit entziehe.4 In der Konsequenz wurde „die Abstraktion“ nach dem Zweiten Weltkrieg zum Synonym für die als „frei“ erachtete Kunst des Westens. Abstraktion war gleichgesetzt mit der Abkehr vom Naturvorbild.5 Die ideo- logisierte Zweiteilung der Kunst ließ die weiter figürlich arbeitenden Künstler ab den 1950er-Jahren als rückwärtsgewandt erscheinen. Folglich waren sie im Kunstbetrieb weniger gefragt.

Diese Betrachtungsweise verfestigte sich – auch in der Einschätzung des Werks von Hans Kindermann. Tatsächlich umfasst auch der künstlerische Nachlass, der im ehe- maligen Atelier des einstigen Dorfschulhauses im südpfälzischen Gleishorbach nahezu geschlossen erhalten ist, mehr figurative als nicht-figurative Werke. Er besteht aus nach 1944 mit der Übersiedlung an den Bodensee entstandenen Arbeiten, zahl- reichen Bildnisbüsten, Figurenbildnissen und einigen Reliefs. Doch zwischen diesen finden sich auch einige abstrakte Werke, etwa ein großes bogenartiges Formgebilde in einer Gips- wie Bronzefassung. Im Außenbereich des Kindermann-Ateliers, an den Wänden des Anwesens, sind vier großformatige Relieftafeln mit schwierig deutbaren, organischen und amorphen Formgebilden angebracht. Schon dieser Bestand macht deutlich: Hans Kindermann war nicht ausnahmslos ein gegenständlich arbeitender Bildhauer.

Die Polarität von Abstraktion und Figuration bildete das künstlerische Spannungsfeld nach 1945, in dem nach der Unterbrechung seines Werkes durch den Zweiten Welt- krieg der Bildhauer seine Orientierung finden musste. Er gehörte nicht zu den Vorkriegskünstlern, die sich während ihres künstlerischen Reifeprozesses mit tradierten oder aber avantgardistischen Ausdrucksmöglichkeiten auseinandersetzten und auf ein bestehendes Werk verweisen konnten, das es weiterzuführen galt. Er zählte je- doch auch nicht zu den nur wenig später Geborenen, die sich – nach den Jahren des NS-Machtmissbrauchs – angesichts der Vielfalt bildnerischer Möglichkeiten ihren persönlichen Weg suchen konnten. Hans Kindermann und seine Altersgenossen gehörten jener sogenannten „verschollenen“ Generation an, von der Rainer Zimmermann in Bezug auf die Maler jener Zeit spricht: Sie haben zwei Weltkriege erlebt, drei politische Systeme und viele von ihnen drei künstlerische Paradigmenwechsel.

Was lag dieser Stilpluralität im Werk Hans Kindermanns zugrunde, an deren Ende ein künstlerisches Bekenntnis zur figurativen Bildhauerei stand? Diese Fragestellung im Kontext der Plastik des 20. Jahrhunderts zu klären, ist Ziel dieser Arbeit.